Titel
Roma victa. Von Roms Umgang mit Niederlagen


Autor(en)
Lentzsch, Simon
Reihe
Schriften zur Alten Geschichte
Erschienen
Stuttgart 2019: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
XI, 484 S.
Preis
€ 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Modrow, School of Information Studies, Syracuse University, New York

In der überarbeiteten Version seiner Dissertation geht Simon Lentzsch der Frage nach, wie eine so derartig auf die eigene Sieghaftigkeit fixierte Gesellschaft wie die römische ihre doch recht häufigen und mitunter katastrophalen Niederlagen erinnerte. Nach einer ausführlichen Einleitung zur Struktur der Arbeit sowie zum Forschungsstand und ebenso ausführlichen methodischen Vorbemerkungen (S. 1–71) konzentriert sich die Studie auf drei Gegnergruppen: die Kelten als prominenter Barbarenstereotyp, die Samniten als Vertreter italischer Gegner und die Karthager als Vertreter der erweiterten hellenistischen Welt.1 Die Quellen werden in jedem Kapitel in chronologischer Reihenfolge besprochen, wobei Livius natürlich die bei weitem ergiebigste ist. Der sechste und letzte Teil des Buches bietet eine Zusammenfassung, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie ein Orts- und Personenregister.

Lentzsch diskutiert zunächst einige gängige Gedächtnismodelle (Halbwachs 1925, 1941; A. Assmann 1999; J. Assmann 1988, 1992, 2008), um sich dann aber für die seiner Meinung nach offeneren Begriffe des sozialen Gedächtnisses (Burke 1989, Wickham und Fentress 1992) und der Geschichtskultur (Rüsen 1994, 2008) zu entscheiden, was später allerdings aufgrund der häufigen Verwendung Assmann-basierter Gedächtnistheorie etwas inkonsistent wirkt. Den Gedächtnismodellen folgen dann einige generelle Bemerkungen zur Geschichtskultur der Republik und frühen Kaiserzeit. Hier betont Lentzsch die inhaltliche wie mediale Heterogenität der greifbaren römischen Vergangenheitsrepräsentationen (Bühne, Rituale, Monumente, Münzen, rhetorische Exempla, Historiographie und Poesie).

Das Kapitel zu Roms Keltenkriegen zeigt eindrucksvoll, wie die Erinnerung an den Galliersturm (c. 386 v.Chr.) alle späteren Konflikte mit den Kelten in den Schatten stellte, wobei hier gerade nicht die Niederlage an der Allia, sondern die Eroberung der Stadt sowie die beinahe erfolgte Einnahme des Kapitols im Mittelpunkt stehen. Dennoch bot der Dies Alliensis, so Lentzsch, römischen wie nicht-römischen Narrativen einen „chronologischen Fixpunkt“, was den mit dieser Niederlage verknüpften Ereignissen der (an Fixpunkten eher armen) römischen Frühgeschichte zusätzliche mnemonische gravitas verlieh. In der antiquarischen Forschung wirkte diese gravitas dann geradezu „gravitativ“ und brachte Rituale und Ortsbezeichnungen in ihre Umlaufbahn, deren jeweiliger Ursprung mit einiger Sicherheit nicht mit dem Galliersturm in Zusammenhang stand. Gleiches gilt für die Figur des Camillus. In der livianischen Makroperspektive wird auch hier als eigentliche Niederlagenursache die Zwietracht der Bürgerschaft ausgemacht (S. 196).

In der als Wiederherstellungsphase propagierten augusteischen Zeit kam dieser überwundenen Gefahr und dem anschließenden Neubeginn besondere Aufmerksamkeit zu. Bei Livius ergibt sich diese Zäsur jedoch nicht allein aus seiner Pentadengliederung (Rettung des Kapitols am Ende der ersten Pentade), sondern Camillus weist höchstpersönlich darauf hin, dass sich all dies „im 365. Jahr der Stadt“ (Liv. 5,54,5) zugetragen habe. Überzeugend kann Lentzsch zeigen, wie sich hier Prinzipatsideologie wiederspiegelt, ließ Augustus doch jeden wissen, dass mit seinem Machtantritt ein weiteres „Großes Jahr“ vergangen war, womit sich bei Livius die chronologische „Erneuerungsachse“ Romulus-Camillus-Augustus bietet (S. 118–120).

In Roms Niederlagenerinnerung ist zudem ein gewisser Hellenisierungseinfluss greifbar. So scheinen in Livius’ Galliersturm die Zerstörung und der Wiederaufbau Athens in den Perserkriegen, aber auch der keltische Angriff auf Delphi durch (279 v.Chr., S. 122–124). Mutig stellt sich Lentzsch nun die mindestens seit Skutsch diskutierte Frage, ob dieser Parallelismus ursprünglich noch konsequenter war, ob also – worauf gewisse Traditionsstränge hinzuweisen scheinen – ältere Berichte (z.B. Fabius Pictor, S. 128) vielleicht sogar von einer Einnahme des Kapitols wussten. Hier wie an vielen anderen Stellen räumt Lentzsch jedoch vorsichtig ein, dass die Quellenlage definitive Schlüsse leider nicht zulasse.

Kurz widmet sich Lentzsch dann den Samnitenkriegen (S. 171–208), die seines Erachtens für Roms erste Historiographen sogar noch in Reichweite des assmannschen kommunikativen Gedächtnisses lagen. Hier steht vor allem die römische Schmach bei Caudium (321 v.Chr.) im Vordergrund. Unter Rückgriff auf numismatische wie literarische Quellen (S. 175–179) kann Lentzsch im Anschluss an Oakley wahrscheinlich machen, dass Livius’ Version „frisiert“ und in einigen Details mit Vorsicht zu genießen ist. Spätrepublikanische Narrative (Quadrigarius, Cicero) scheinen von einem ratifizierten Vertragsabschluss (foedus) zu wissen, dessen Bruch durch die Römer die spätere Geschichtsschreibung mit einer sponsio-Version (Feldherrenagreement, das der Ratifizierung durch den Senat bedurfte) zu kaschieren suchte. Häufig werden zudem die Niederlagen von Caudium und Numantia mnemonisch verkettet (S. 200–202).

Roms erster und zweiter Krieg gegen Karthago stehen nacheinander im Fokus des letzten Kapitels, das ungefähr die Hälfte der gesamten Studie einnimmt (S. 209–432). Silius Italicus’ Punica bilden jeweils den Abschlusspunkt der detaillierten Betrachtung. In der Erinnerung an den ersten Krieg dominieren nach Lentzsch vor allem der Auspizienfrevel des P. Claudius Pulcher und seine anschließende Niederlage bei Drepana sowie das Schicksal des M. Atilius Regulus, wobei die Deutungen sich kontrastiv um Pulchers Arroganz und fehlende pietas sowie um die selbstlose fides des Regulus kristallisieren. In der römischen Erinnerungskultur wird letztere im Kontext des zweiten Punischen Krieges zugleich zum anti-exemplum, mit dem sich zum Beispiel die Verweigerung eines Gefangenenaustauschs nach der Schlacht von Cannae rechtfertigen lässt. Regulus’ eigentliche Niederlage tritt dabei gegenüber dem Triumph seiner stoischen Haltung mehr und mehr in den Hintergrund (S. 249).

Die Geburt (von Teilen) der römischen Literatur (Naevius, Pictor) deutet Lentzsch überzeugend im Kontext der Niederlagenerfahrungen des zweiten Krieges (S. 256–264). Cannae wird dann in der republikanischen wie in der kaiserzeitlichen memoria zum alles überschattenden Ereignis und oft gar zum entscheidenden Wendepunkt des Krieges stilisiert (Livius, Silius), während die Person des Hannibal je nach Quellenkontext zur strategisch-genialen (Nepos) oder hinterlistig-grausamsten (Livius) Bedrohung Roms avanciert (S. 303).

Lentzsch beobachtet zudem, wie einige Niederlagen gegen Hannibal bereits vor Livius mit religiösem oder anderweitigem Fehlverhalten einzelner Feldherren erklärt werden und spekuliert, dass die negative Zeichnung des C. Flaminius bereits auf Fabius Pictor zurückgehen könnte (S. 302). Auf Niederlagen reagierende Tempelstiftungen dürften zumindest für eine Weile ihren Stiftungsgrund in Erinnerung gehalten haben (S. 249f.). Schlachtfeldnamen wie Cannae wurden später zu mnemonischem Allgemeingut, während die griechische Praxis des Schlachtfeldmonuments für die Republik nicht in Frage kam (S. 251). Noch in den Krisen der Spätantike, so zeigt Lentzsch in einem Ausblick, konnten die überwundenen Niederlagen der Republik zudem Hoffnung stiften (S. 429–432).

Im Anschluss an Jan Assmann konstatiert Lentzsch am Ende, dass sich auch das römische kulturelle Gedächtnis auf historische Fixpunkte ausrichtet, was hier vor allem für eine kleine, mit höchster Relevanz aufgeladene Auswahl von Niederlagen zutraf (Allia, Caudium, Cannae), mit denen zumeist – historisch gerechtfertigt oder nicht – „eine Bedrohung der Stadt Rom selbst – oft symbolisiert in Gestalt des Kapitols – verbunden war“ (S. 434). Außerhalb von Epos und Historiographie konnte sich diese Erinnerung um selektive Szenen verdichten, bei denen zumeist (so z.B. in der Frage des Gefangenenaustauschs) die Orientierung am Gemeinwohl gelobt oder deren Gegenteil getadelt wurde (S. 435).

Die Studie zeigt, wie der Überwindung bedeutender Niederlagen gerade im teleologischen Geschichtsbild eines Livius makrohistorische Funktion zukommt, so dass die Wiederherstellung der concordia unter der besonnenen Führung des Senats, die Reparatur des Verhältnisses zu den Göttern sowie das Lernen aus strategischen wie moralischen Fehlern Roms Aufstieg zur Weltherrschaft geradezu erklärt: „Viele Gegner Roms erscheinen dementsprechend eher als Instrument der Bestrafung moralischer Fehler [...]. Ihr Schicksal halten die Römer stets in eignen Händen“ (S. 439).

Livius’ Unterscheidung von oberflächlichen Gründen und tiefer liegenden Ursachen mag auch in anderen Quellen angelegt gewesen sein, doch lasse sich dies aufgrund der desolaten Quellenlage nicht mehr nachvollziehen (S. 439f.). In dieser romantischen Projektion einer stets erneuerten republikanischen Ordnung sieht auch Lentzsch eine Reflektion der schweren inneren Konflikte der späten Republik (S. 440). Genre, aber ebenfalls der eigene domitianische Kontext mögen dann erklären, warum bei Silius Italicus Roms moralische Bewährung in schwerster Krise vor allem mit der Frage nach dem geeignetsten Anführer (Scipio) verbunden ist (S. 441).

Im Vergleich zu anderen Kulturen und sicherlich im Wissen um den eigenen Erfolg, so Lentzsch abschließend, bildete Rom gerade keine (martyriologisch-revanchistisch geprägte) „Kultur der Niederlage“ heraus, sondern eher eine Erinnerungskultur, die militärische Krisen als „nützliche Erfahrungen“ in die eigene Erfolgsgeschichte integrierte. Die Narrative dieser Erfolgsgeschichte, so wird aus dieser Studie deutlich, betonen vor allem Roms überlegenen Umgang mit seinen Niederlagen als tieferliegende Ursache.

Anmerkung:
1 Dass Karthago als (einzige!) Vertreterin der hellenistischen Welt herhält, mag aus moderner Perspektive vielleicht noch überzeugen, ist aus antiker allerdings problematisch, da Griechen wie Römer die Punier/Phönizier durchaus als distinkten Kulturkreis wahrnahmen. Siehe zuletzt den knappen Überblick über die griechisch-römische Perspektive bei Marion Bolder-Boos, Mutige Seefahrer und gierige Händler – Darstellungen der Karthager in der neuzeitlichen Forschung, in: dies. / Natascha Bagherpour Kashani (Hrsg.), Carthage Studies 11, Gent 2019, S. 159–160; sowie die älteren, jedoch ausführlicheren Darstellungen von Frederico Mazza, The Phoenicians as Seen by the Ancient World, in: Sabatino Moscati (Hrsg.), The Phoenicians, Mailand 1988, S. 548–567, sowie Gerhard Waldherr, „Punica fides“. Das Bild der Karthager in Rom, in: Gymnasium 107 (2000), S. 193–222.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch